Nach dem "Kalkar-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts muss die Bevölkerung ein so genanntes "Restrisiko" als "sozialadäquate Lasten" akzeptieren. Die Atomindustrie hält diesen Teil des Urteils gerne der atomkritischen Bevölkerung vor, verschweigt jedoch, was das höchste deutsche Gericht unter diesen Begriff fasst und was nicht. Die Richter haben das Restrisiko im Kalkar-Urteil sehr genau definiert: Zu akzeptieren sind demnach nur rein hypothetische Unfallabläufe. Nach dem Wortlaut des Bundesverfassungsgerichts geht es beim Restrisiko allein um "Ungewissheiten" jenseits der "Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens". Als Restrisiko muss die Bevölkerung also nur völlig unbekannte Unfallszenarien hinnehmen. Das heißt aber umgekehrt, dass jegliche konkret erkannten und vorstellbaren Unfallszenarien kein zu akzeptierendes Restrisiko sind. Vor diesem Hintergrund ist es völlig unverständlich und rechtlich unzulässig, dass die Atomindustrie und viele Atomaufsichtsbehörden beispielsweise Flugzeugabstürze als Restrisiko bezeichnen und daher keinen umfassenden Schutz sicherstellen. Auch das mögliche Versagen der Reaktorschnellabschaltung, eines der am meisten gefürchteten Geschehnisse in Atomkraftwerken, - ist somit kein Restrisiko, wie die Atomindustrie gerne Glauben machen will. Biblis B ist gegen den Absturz schwerer Militärflugzeuge und Passagierflugzeuge nicht ausgelegt, obwohl der Frankfurter Rhein-Main-Flughafen nicht weit entfernt ist. Auch gegen ein Versagen der Reaktorschnellabschaltung bei " Betriebstransienten" ("ATWS-Störfälle") ist das Atomkraftwerk im Vergleich zu anderen Atomkraftwerken denkbar schlecht gerüstet, wie die Reaktorsicherheitskommission (RSK) 2001 feststellte. Sicherheitsbestimmungen für die Atomindustrie - je nach Bedarf Ohne dass im Atomgesetz oder im Kalkar-Urteil davon die Rede ist, haben die Atomindustrie und die Atomaufsichtsbehörden außerdem auch vier so genannte "Sicherheitsebenen" definiert. Das Restrisiko bezeichnen sie in diesem Modell als "Sicherheitsebene 4". Dort ordnen sie jedoch nicht nur Ungewissheiten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens zu, sondern beispielsweise Flugzeugabstürze. Auf diese Weise möchte sich die Atomindustrie des Erfordernisses entledigen, ihre Anlagen wirksam gegen den Absturz von Passagiermaschinen zu sichern oder - sofern das nicht möglich ist - stillzulegen. Das Modell mit den Sicherheitsebenen ist für RWE also sehr vorteilhaft. Es gab allerdings einen Fall, da wäre das Modell ausnahmsweise zu Lasten von RWE gegangen. So begründete die Bundesatomaufsicht eine geplante Auflage mit dem Konzept der Sicherheitsebenen. Sofort verwahrte sich der Atomkonzern gegen die Anwendung des sonst so beliebten Modells. In einem Schreiben an die hessische Atomaufsicht vom 6. April 2004 bezeichnete RWE die Sicherheitsebenen als reines Gedankenmodell, das keinerlei rechtliche Relevanz habe und daher nicht anzuwenden sei. Zitat RWE: "Die Zuordnung von ... Systemen zu den Sicherheitsebene ... ist ein Gedankenmodell, aber grundsätzlich nicht Genehmigungsgegenstand." Das Eingeständnis von RWE, dass es sich bei den "Sicherheitsebenen" um ein Gedankenmodell ohne rechtliche Relevanz handelt, ist zu begrüßen. Die hessische Atomaufsicht muss nun die erforderlichen Konsequenz daraus ziehen: Der unzureichende Schutz von Biblis B gegen reale Risiken, die man bislang willkürlich in eine "Sicherheitsebene 4" geschoben bzw. "dem Restrisikobereich zugeordnet" hat, muss aus rechtlichen Gründen dazu führen, dass das fehlerhaft konstruierte Atomkraftwerk stillgelegt wird.
aus der Bibliszeitung vom November 2007 ( hier als download) 
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